Ist die Schweiz noch eine Willensnation?

Reprise: Vortrag vom Dienstag, 18. September 2007,

vor dem Rotary-Club Konstanz

Die Nationalstaaten haben sich schon immer mit über die gemeinsame Sprache ihrer Angehörigen definiert. Gewiss war und ist die Sprache nicht das einzige, und gewiss nicht ein der abschliessenden Abgrenzung dienendes Argument der nationalen Zusammengehörigkeit. Aber dass die Sprache, in der die Verfassung geschrieben ist, die gemeinsame sei, ist für deren Geltung in den grossen Nationen wichtig. Für die aus vier verschiedenen Sprachregionen bzw. je einer lateinischen und einer germanischen Hauptregion bestehende Schweiz kam dieses wichtige Argument des nationalen Zusammenhalts nicht in Betracht. Dies war das Motiv, von einer Willensnation zu sprechen als einem Gebilde, dessen Angehörige trotz Zugehörigkeit zu verschiedenen Sprachgemeinschaften zusammen eine politische Gemeinschaft konstituieren. Dieses Argument wog um so mehr, als jene Nationen, welche die in der Schweiz vereinigten Sprachregionen ausserhalb des Landes hauptsächlich repräsentieren, immer wieder untereinander in Kriege verwickelt waren. Während also die Franzosen und Deutschen sich wiederholt in kleineren und auch grossen Kriegen die Köpfe einschlugen, bildeten die vielsprachigen Schweizer ein „einig Volk von Brüdern“. In diesem Kontext des Zusammenfindens von Teilen der im Ausland verfeindeten Sprachgemeinschaften ist denn auch die schweizerische Neutralität verständlich. 

In der Deutschschweiz war für jemanden, der wie ich zu Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde, in der vorhergehenden Generation eine starke sprachliche Abgrenzung gegenüber dem grossdeutschen Raum spürbar, die mit ebenso starker Ablehnung verbunden war. Darin unterschied sich die Deutschschweiz von der Welsch­schweiz. Das Verhältnis des Welschen zu den sprachlichen Artgenossen jenseits der Grenze war und ist vergleichsweise unverkrampft. In ihrem sprachlichen Gestus zeigte sich die Mentalität der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer noch in der Nachkriegszeit ihren Kindern in jener Figur, die das Militär in der Form des Igels gegen Hitler-Deutschland in Anschlag gebracht hatte. Zwar war das Schriftdeutsche oder Hochdeutsche die offizielle Amts- und Schulsprache, aber verwendet wurde sie nur in einer eigenartig eingeschweizerten Form. Als Radiosprecherinnen und –sprecher kamen nur Personen in Frage, die markant eingeschweizertes Deutsch sprachen, während in der Westschweiz das gehobene Französisch sich immer eines uneingeschränkten Prestiges erfreute. So wurde noch in den 50er Jahren das heranwachsende Kind in unseren Breitengraden sehr deutschskeptisch sozialisiert. Dieser Bruch des Deutschschweizer Teils der Schweizer Staatsbevölkerung mit der eigenen umfassenden Sprachgemeinschaft war für sprachlich sensibilisierte Personen immer ein Problem. Er bedeutete für den Deutschschweizer die erschwerte Teilhabe am Kulturgut dieser Sprachgemeinschaft, eine durch die kleinnationale Realität erzwungene Beschränkung. 

In den späten 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts war die Schweiz in unserem Empfinden, wahrscheinlich aber auch objektiv die wirtschaftlich am meisten prosperierende Gegend Europas. Von zwei Weltkriegen verschont, profitierten wir auf hohem Niveau von der Wiederaufbauarbeit in den umliegenden kriegsversehrten Ländern. An erster Stelle stand in unserer Wahrnehmung wirtschaftlich die arbeitsame Deutschschweiz, zu ihr gehörte die weniger fleissige Welschschweiz, und dazu kam noch das Tessin als touristische Sonnenstube. Für den nationalen Zusammenhalt sorgten gemeinsame Institutionen wie die Armee, die AHV, die staatlichen Regie-Betriebe PTT und SBB, die schweizerische Landestopographie und damals noch und bis Mitte der 90er Jahre die Swissair. Zudem statteten Schweizer Banken und Grossunternehmen Niederlassungen in der Westschweiz mit Entscheidungszentren aus, eine Praxis, die sich vor allem in den 90er Jahren völlig verändert hat. 

Unausgesprochen noch lauerte schon damals, während der langen Rezession der ersten Hälfte der 90er Jahre, in vielen Köpfen und Herzen die Angst vor einem Stillstand oder gar Niedergang der Schweiz. Sicher war: Die Schweiz hatte ihre durch Kriegsverschonung angesammelten Reserven aufgebraucht, ihr wirtschafts- und bildungspolitischer Vorsprung vor anderen europäischen Ländern schwand zusehends, die Staatsquote stieg und stieg, auch unter bürgerlichen Mehrheiten. Mit dem Fall der Berliner Mauer und der daraus hervorgegangenen Wiedervereinigung Deutschlands begann ein anfänglich kaum spürbarer, bis heute noch nicht ganz begriffener Bedeutungsverlust der Schweiz im Verhältnis zu ihrem grossen Nachbarn im Norden sowie zu Europa ingesamt.  

Im Oktober 1992 entschied sich die Schweiz im Verhältnis zum übrigen Europa zum  sogenannten „Alleingang“. Bei jener Abstimmung über die Mitgliedschaft im EWR wurde auch das Verhältnis zwischen Welsch- und Deutschschweiz, der sogenannte „Röschtigraben“, erneut zu einem brennenden Thema. Die Welschschweiz hatte mehrheitlich für, die Deutschschweiz mehrheitlich gegen die Mitgliedschaft im EWR gestimmt. Vor dem Hintergrund des Verhältnisses dieser Sprachregionen zu ihren umfassenden Sprachgemeinschaften erstaunt uns das wenig. Der Deutschschweizer Igel kam voll zum Tragen, vor allem durch die vom SVP-Politiker Christoph Blocher inspirierte Anti-EWR-Kampagne. Gleich wichtig für die Verschlechterung des welsch-deutschschweizerischen Verhältnisses waren die wirtschaftlichen Mikrovorgänge. Immer mehr grössere Unternehmen, vor allem auch die Banken, zogen lokale Entscheidungszentren aus der Welschschweiz ab. Zum Ausbruch kam die Ungehaltenheit über diese Entwicklung am Fall des Entscheids von Swissair-CEO Philippe Bruggisser, die meisten Langstrecken-Flüge von Genf Cointrin im Zuge der Mega-Hub-Strategie Kloten abzuziehen. Die Konzentration auf die Wirtschaftsräume Zürich und Basel wurde vorangetrieben. 

Im Gegenzug entstand in der Westschweiz die schwergewichtige Metropolitanregion Léman, die die Agglomerationen Lausanne und Genf sowie Teile der angrenzenden französischen Agglomeration umfasst. Seither wird die Schweiz zusehends von zwei wirtschaftlichen Ballungsräumen geprägt: dem Raum Zürich – Basel und dem Raum Lausanne – Genf, dem Léman. Mir will scheinen, dass diese zwei Gravitationsräume sich ziemlich unabhängig voneinander entwickeln. 

Immer wieder zwar richten sich die Blicke mancher Westschweizer Klein- und Mittelunternehmer auf den Deutschschweizer Markt. Doch ist der Weg in die Deutschschweiz für Westschweizer Firmen beschwerlich. Vor allem linguistische Barrieren versperren den Weg spätestens nach Neu­enburg, Biel oder Fribourg. Menschen französischer Muttersprache haben Mühe mit dem deutschschweizerischen Dialekt. Die Abneigung wiederum vieler Deutschschweizer gegenüber der Fremdsprache Hochdeutsch verschärft diese Schwierigkeit. Hinzu kommt, dass die ehemals für ihre Fremdsprachenkenntnisse viel gerühmten Deutschschweizer immer weniger des Französischen mächtig sind. Das Französische ist in der Konkurrenz der Fremdsprachen gegenüber dem Englischen ins Hintertreffen geraten. 

Während die Kommunikationsintensität mit aller Welt zunimmt, nimmt sie zwischen Welsch- und Deutschschweizern eher ab. Während also fern gelegene Teile der Welt zusammenrücken, kann es sein, dass nahe gelegene Teile voneinander abrücken. Es ist heute auf vielen Gebieten wahrscheinlich für jemanden in Zürich genau so nahe liegend, mit jemandem in Singapur zusammenzuarbeiten wie mit einem Partner in Neuchâtel, Lausanne oder Genf. Die Emanzipation vom Ort führt zur Auflösung geographischer Abhängigkeiten und Solidaritäten, die dann nur noch von jenen einfordert werden, die an der Emanzipation nicht teilhaben, also den Globalisierungsverlierern. Die wirtschaftliche Mikrovernetzung zwischen den Landesteilen nimmt in der Globalisierung ab, und damit auch der nationale Zusammenhalt der Schweiz.

Zudem wird allmählich spürbar, dass die Schweiz von heute im Verhältnis zur Schweiz der Nachkriegszeit beträchtlich geschrumpft ist, insbesondere im Verhältnis zum wichtigsten Handels- und Wirtschaftspartner Deutschland. Ein Lehrstück für diesen Bedeutungsverlust der Schweiz gegenüber Deutschland ist das Dossier Flughafen Zürich. War es zu Bonner Zeiten der Schweiz aufgrund exzellenter Beziehungen und freundnachbarlicher Verbandelungen noch möglich, beim Anflugregime auf den Zürcher Flughafen ihre Interessen gegen diejenigen der Bevölkerung des südlichen Baden-Württemberg unter permanenter Missachtung bestehender Verträge durchzusetzen, gelang dies nach der Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr. Die Gestaltungsaufgaben wie die Gestaltungskraft Deutschlands haben die Schweiz distanziert. Berlin ist weiter als Bonn, und das heutige geopolitische Gewicht Deutschlands wiegt im Vergleich zu demjenigen der Schweiz deutlich schwerer als früher. Deutschland wuchs und wächst immer noch in eine völlig veränderte europapolitische Rolle hinein, die Thematik der Mittelmacht zwischen Ost und West ist wieder akut, vor allem seit der Öffnung der EU auf Osteuropa. Die Nachricht von dieser Entwicklung und deren Konsequenzen ist in der Schweiz bislang in breiten Kreisen, aber auch bei Politikerinnen und Politikern vor allem meiner, von der Nachkriegszeit geprägten Generation, noch nicht angekommen.         

Bedenken wir schliesslich beim Thema Willensnation, dass wir von einem Land reden, das den Weg vom Staatenbund zum Bundesstaat nur mit grössten, heute noch wirksamen Vorbehalten gegangen ist. Die Schweizer Kantone verfügen über Hoheitsrechte, wie sie die deutschen Länder in diesem Ausmasse nicht kennen, von den Steuern über die Bildung bis zur Polizei. Dadurch stehen die zum Teil sehr kleinräumigen Kantone – Schaffhausen etwa zählt 73'000 Einwohner, Neuchâtel mit einer eigenen Universität 170'000 - miteinander in zum Teil scharfem Wettbewerb, vor allem im Steuer-, aber auch im Bildungsbereich. Da fällt es schwer, unter dem Druck der Globalisierung zu regionaler Zusammenarbeit in diesen Dossiers zu finden. Bruchlinien sind da nicht nur zwischen der West- und der Deutschschweiz erkennbar, sondern auch zwischen den Metropolitanregionen und den sogenannten Randgebieten. Zudem fehlt  zwischen den urbanen Gravitationszentren Zürich, Basel sowie Lausanne, Genf in der Mitte eine starke Metropolitanregion. Der Kanton Bern ist mit dem Projekt Espace Mittelland gescheitert. So haben wir in der geographischen Mitte der Schweiz, in deren politischem Zentrum, in Wahrheit ein Vakuum. Zusammen mit der zunehmenden Identitätsproblematik unseres Landes führt dieses Vakuum immer wieder zu symbolischen Beschwörungen der Zusammengehörigkeit. So lud unsere sozialistische Westschweizer Bundespräsidentin die zur Geburtsstätte unserer Nation erhobene Rütliwiese für Tage mit einer Prise Patriotismus auf, der die Westschweizer Medien applaudierten und die die Deutschschweizer überraschte. Ich denke, es handelte sich hier eher um den Hinweis auf ein Problem als um dessen Lösung. Der Schweizer Patriotismus, hiess es fast durch die Bank von seiten berufener Kommentatoren, sei halt durch und durch pragmatisch. Was darüber hinausgeht, steht für allerlei Symbole zur Disposition – und sei dies ein Geissbock, das Maskottchen der SVP in ihrer diesjährigen Kampagne für die Gesamterneuerungswahlen des Nationalrates.

Indem die Europäische Union das Ende der Zerstrittenheit der Sprachgemeinschaften bedeutet, denen unsere Sprachregionen angehören, ist eine wichtige Bedingung der Schweiz als Willensnation nicht mehr erfüllbar. Die Schweiz ist kein Gegenentwurf mehr. Sie ist nur noch ein Analogon. Und damit entfällt auf Dauer ihre Abgrenzung gegen aussen. Ist die Schweiz also noch eine Willensnation? Solange wir uns von den anderen abgrenzen. Wir werden sehen, wie lange wir das noch durchhalten.

 

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