Der Kriegsberichterstatter und die existenzielle Photographie.

Letzthin veranstaltete eine Photographische Gesellschaft, die sich sonst eher mit formalen Aspekten der Photographie beschäftigt, einen Abend mit einem Kriegsberichterstatter. Es ging um die Schlacht um Mosul, die noch heute, im März 2017, im Gange ist. Der Mann war dort schon mehrmals an der Front gewesen, und er wird in wenigen Wochen wieder hinreisen. Die Mitglieder der Gesellschaft waren gewarnt: Es würden auch Bilder gezeigt, die Medien in unseren Breitengraden nicht publizieren, von sterbenden und toten Menschen. Er sei diese Tabuisierung leid, erklärte der Vortragende. 

 

Ich selbst habe Kurdistan, allerdings auf der türkischen Seite und noch zu einigermassen friedlichen Zeiten, grenznah bereist und verfüge somit über einen gewissen Bezug zur Region und deren Bevölkerung - will heissen: Ich habe eine Vorstellung davon, wie das Leben dort ist, wenn die Gesellschaft funktioniert. Dieses Funktionieren ist heute stark beeinträchtigt, nicht nur in Gegenden, die vom IS heimgesucht werden. 

 

Die Bilder des Kriegsberichterstatters zeigen, wie es aussieht und sich anfühlt, wenn Gesellschaften nicht mehr funktionieren. Damit sind wir bei Zuständen, wie sie auch im Europa des letzten Jahrhunderts, vor allem in dessen erster Hälfte, anzutreffen waren. Nur ein Tor wird die mögliche Rückkehr solcher Zustände bei uns ausschliessen. Insofern sind die Bilder von der Front in Mosul auch solche einer möglichen Zukunft hierzulande, um so mehr, als die Nachkriegsordnung im atlantischen Raum gerade am Zusammenbrechen ist.

 

Ich habe das Wirken eines Todestriebs in uns nie bezweifelt und diesen als Sehnsucht nach Erfahrungen am Rand der Existenz zu begreifen gesucht, zunächst, als Student noch, beeinflusst durch Martin Heideggers „Sein zum Tode“ (Sein und Zeit). Mit der Unmöglichkeit (und Notwendigkeit) solcher Erfahrungen setzt sich insbesondere, in scharfem Kontrast zu Heidegger, der im deutschen Sprachraum kaum bekannte, von Denkern wie Jacques Derrida hochverehrte französische Autor Maurice Blanchot auseinander (siehe etwa L’attente, l’oubli). Das Bewusstsein weiss vom Rand, es wartet auf das Ankommen beim Rand, aber es wird dort nie ankommen, weil es dabei erlischt. Sein Warten ist deshalb ein durchgestrichenes. Es handelt sich hier um eine spezielle Notlage des zoon logon echon (Aristoteles), des der Sprache fähigen Tiers (oder, wie ich auch sagen könnte, des Tiers, das Bewusstsein hat - in unserem eigenartigen, von dem anderer Tiere verschiedenen Sinne).

 

Da unsereiner den Tod auf sicher hat, kann das Aufsuchen der Lebensgefahr auch als Wunsch nach Abkürzung des Wartens verstanden werden. Die verständliche Frage aus der Mitte der Photographischen Gesellschaft, wie jemand dazu komme, aus dem Lebensgenuss friedlicher Breitengrade heraus sich in solche Gefahr zu begeben, wirkt bei solch geschärfter Zuspitzung des existenziellen Wartens irgendwie schal. 

 

Für sich eingenommen hat der Kriegsberichterstatter den Schreibenden aber vollends beim Hinweis auf die bleierne Banalität, die sich der Akteure des Grauens mit der Zeit bemächtigt. Es gehört zu unseren bedenklicheren Fähigkeiten, aus noch so schlimmen Zuständen Normalitäten zu entwickeln, so zwar, dass das Erschreckende an den Zuständen mit der Zeit nicht mehr gesehen wird, gerade von jenen, die sie mit hervorbringen. Diese Abstumpfung selbst mit ihren fatalen Auswirkungen zu zeigen, war eine der herausragenden Qualitäten der mitgebrachten Photographien.

 

Nun, was leistet hier die Photographie? Sie beglaubigt zunächst den Bericht des Augenzeugen - unbeschadet aller prominent bekannt gewordenen Praktiken der Fälschung. Die gezeigten Photos hatten die dem ursprünglichen Sehen innewohnende Kraft der Evidenz, es gab keinen vernünftigen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. In der Tat ist der Zweifel immer sekundär, stets überwältigt primär das Gesehene. Diese Grundtatsache des Verhältnisses des Sehens zum Phänomen wird dann übermächtig, wenn dieses fasziniert, und zweifelsohne ist das Kriegsgeschehen als allgemeines Aufbrechen des Randes der Existenz ein Faszinosum. Wir heissen „referentielle Illusion“ jenen Wahn, der uns glauben lässt, die abgebildete Szene (also der Referent) sei selbst präsent. Dieser Wahn ist am grössten in der Faszination. Man kann dem Photographen unterstellen, er sei zum Kriegsberichterstatter geworden, weil er so eines der Ziele der Photographie, nämlich den abgebildeten Gegenstand bzw. die Szene selbst präsent werden zu lassen, am besten erreiche. Sagen wir besser: Die Photographie nimmt hier den Photographen bei Lebensgefahr mit in die grösstmögliche Zuspitzung der Präsenz ihres Gegenstands. 

 

Rühren wir da nicht an eine Wurzel von Abbildung überhaupt, nämlich die Beschwörung des Erscheinenden, das in die wiederholte Anwesenheit gerufen wird? Was erscheint hier? Der Rand der Zivilisation, ihr Zerfall, der Rand der Existenz, ihr Tod. Was ist dieser Rand? Er ist die Wahrheit, die im Binnenleben nicht gesehen und von der jederzeit auch im grössten Grauen aufkommenden Banalität verdeckt wird. Sehen wir noch all die Verkehrstoten, die wir mit unserer nicht voll beherrschten Infrastruktur täglich produzieren?

 

Nun, sind Kunst und Grauen kompatibel? Die Frage hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts angesichts von Auschwitz die Gemüter erschüttert. Verletzt hier die Photographie, in so fern sie Kunst ist bzw. sein will, moralische Prinzipien, vor allem dasjenige des Respekts vor den Opfern der Kriegsgreuel? Würd’ ich so daliegen, es würde aus mir herausschreien: Photographiert mich, es sei ein Menetekel! Mit Verlaub, ich halte dieses Argument für scheinheilig. Man will die Gräuel nicht sehen und schiebt Moral vor. Man spricht von Voyeurismus, wo man selber nicht hinschauen will. Dabei sind es gerade jene, die unversehrt im Frieden leben, bei denen der Anblick der Verstümmelten und Abgeschlachteten noch jene Wirkung haben kann, die er im Kriegsgebiet längst verloren hat. Gerade sie sind zur Zeugenschaft berufen. Sozusagen, füge ich hinzu, denn ich wüsste nicht, in wessen Namen ich hier eine Moral zu vertreten hätte… 

 

Stark scheint mir aber die Kunst, und hier die abbildende Photographie, dort, wo sie das zu Zeigende so beschwört, dass es für den Moment der Betrachtung unwillkürlich mit Macht die ganze Präsenz in Beschlag nimmt - die übrige Welt vergessen lässt und die eine Szene als Welt hervorbringt. Dazu braucht es über den Vollbesitz des Handwerks hinaus jenen Blick, der diese Welt im photographischen Viereck gültig darbietet. Darin liegt eine Aesthetik, die den formalen Erfordernissen der Photographie vorgelagert ist. Deren Grundriss lässt sich etwa an Martin Heideggers „Geviert“ skizzieren (Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen). Dazu mehr in einer späteren Reflexion über das photographische Viereck und das Geviert.

 

PS.:  
1. Das Aufsuchen der Lebensgefahr kann auch gedeutet werden als kontrastierende Freistellung einer existenziellen Sorglosigkeit. Siehe dazu z.B. die Passagen zum "acte gratuit" bei Baudelaire in den Petits poèmes en prose. Im Zusammenhang zu sehen mit dem, was der Kriegsberichterstatter den "surrealen Aspekt" der Kriegsszenen in Mosul genannt hat. 
2. Das deutschtümelnde, stark agrarische Vokabular Heideggers bei der Entfaltung seiner Gedankenwelt zum Geviert lehne ich als durch und durch urban sozialisierte Person ab, bei allem Interesse am Grundgedanken. Die Dimensionen des Göttlichen und der Sterblichen sehe ich als Schichten des Bewusstseins. In L'Etre et le Néant stellt Sartre in seiner phänomenologischen Analyse des Bewusstseins eine Grundschicht der conscience irréfléchie (de) soi frei, deren Schwung ins Unendliche geht - hier also das Göttliche. Das Bewusstsein der Endlichkeit, darin der Sterbliche zu sich kommt, ist bereits reflektiert. Für mich ist denn auch für die Freistellung dieser Grundschicht des Göttlichen als des unendlichen Schwungs das Gehen zentral (als schlichter, zielloser Vollzug, sich "selbst" liebende Bewegung), nicht, wie für Heidegger, das Wohnen, bei dem die Sterblichkeit überhand nimmt. Daher auch meine Affinität zu den rêveries du promeneur solitaire von JJ. Rousseau (siehe meine Habilitationsschrift). 

3. Auf fällt, dass französische Autoren eher der existenziellen Sorglosigkeit zuneigen, deutsche eher der Sorge. 

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