Letzthin war in Zeitungen zu lesen, dass Kinder kaum mehr allein in den Wald gehen würden. Das war vor 65 Jahren, als ich noch Kind war, ganz anders. Ich wuchs in der Stadt Zürich hinter dem Bucheggplatz, beim Allenmoos auf und hatte gleich zwei Wälder zur Verfügung: im Osten den Zürichberg- und Adlisbergwald, der vom Irchel bis zum Zoo und hinüber nach Gockhausen reicht, im Westen den Waidwald, der sich vom Friedhof Nordheim über den Bucheggplatz bis fast nach Höngg erstreckt.
Der Zürichsee bedeutete mir wenig, es war der Wald, der mich anzog, es waren diese beiden Wälder, die mich zum Umherstreifen einluden, zum ungestörten, von all den Baum- und Strauchgeschöpfen, Wegkrümmungen und -kreuzungen, von den Waldhütten mit ihren Vorplätzen angereicherten Träumen. In frühen Jahren vertrieb mich da schon mal ein furchtbarer Einfall, indem ich mir lebhaft vorstellte, die Bäume seien die Haare eines Riesen, und es könne eine übergrosse Laus daherkommen, deren Anblick allein schon genügen würde, mich vor Schreck erstarren zu lassen. Es war so weit ich mich erinnere das einzige Mal, dass ich so rasch aus dem Wald rannte wie ich nur konnte. Nun, der Wald war eine willkommene Abwechslung zum Alltag des Stadtkindes - meine allein erziehende Mutter war berufstätig, ich besuchte bis zwölf in der Kindergarten- wie der Primarschulzeit den Tageshort. Dies beförderte meine Aufenthalte im Wald, es verschonte mich vor einem übermässigen Familienleben und schenkte mir ein Verlangen nach Zwiesprache jenseits des menschlichen Geheges, das den in Aufzucht befindlichen Heranwachsenden oft so ungebührlich bedrängt. Der Wald wurde für mich zur sagenwebenden Lichtung in einer Art Obdachlosigkeit, die ich nie als Mangel, sondern immer als grosse Freiheit verstand, voller Schattengestalten und Verheissungen hinter Wegkrümmungen und auf lockeren Gängen über Waldlichtungen.
Eigenartigerweise habe ich dann ganz selten später im Walde geliebt. Wahrscheinlich, weil ich zu unpraktisch veranlagt war. Man hätte ja ein Tuch mitnehmen müssen, aufpassen müssen, dass man nicht gesehen wird. Aber der Wald war in meiner langewährenden Pubertät der bevorzugte Ort für Liebesgespräche - solche, die ich mit einer anwesenden weiblichen Person führte, aber noch mehr solche, in denen ich die Anwesenheit dieser Person nur imaginierte. Letztere Gespräche waren einiges erhebender als erstere, denn erstens bot mir niemand Widerstand oder enttäuschte mich mit einfältigen Repliken, und zweitens konnte ich meiner Lust zur Projektion freien Lauf lassen. Überhaupt war mir der Wald immer ein Ort freilaufender Projektion, träumerischer Inszenierung inmitten dieser nur selten von irgendeinem Tier begangenen Pflanzenwelt. Meine Kenntnis der selben hielt sich und hält sich denn auch in engen Grenzen. Mich interessierte nicht, vor welcher Art Baum ich stand, mich interessierten nur die Empfindungen und Gedanken, die ich beim Durchstreifen des Waldes hatte.
Was ist denn im Wald ganz anders als am Gestade des Sees, auf Höhenwegen am Berg oder unterwegs im Feld? Im Wald ist für uns kein Horizont! Im Wald ist die nächste Wegkrümmung, ist die Lichtung vor dir nicht eingebettet in den alles einordnenden Gesichtskreis, nein: der Raum wird ausgefüllt von der Szene, die du vor dir hast und die dich umgibt, und die Zeit teilt sich dir nur mit im Schatten, den die Bäume werfen, nicht am Stand der Sonne selbst. Das Erlebnis des Waldes besteht in der Szenenfolge, die deine Seele prägt und in deren Wechsel wie in einem Kaleidoskop das Universum sich laufend in neuer, überraschender Konstellation darbietet.
Text und Photo: Peter Köppel.
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