Die Verhältnisse, die ihn hervorgebracht hatten, gingen mit seiner Welt unter, die andere Welt war schon da, liess ihm eine Frist, wie vielen anderen auch, die wie er sich zu Ende lebten in einer Umgebung, deren Bewohnbarkeit abnahm.
Zu einem schwerwiegenden Vorfall in meinem Umfeld.
Ende Juni 2024.
Bei aller Berechtigung des Psychologisierens bei der Beurteilung menschlicher Taten, angesichts eines Selbstmords reicht‘s nicht aus, denn da geht es meist ans Existenzielle. Psychologie hält
sich ans soziale Gehege, die Existenz überragt dieses, sprengt es, gelegentlich, und dann oft sich selbst. Sie, die sich da das Leben genommen hat, lebte einst, vor gut 30 Jahren, ganze sieben
Jahre mit ihm zusammen, sie knapp 20, er 46. Die Beziehung lebte von der Auseinandersetzung mit ihr, auf beiden Seiten, in einer Gesellschaft, die sie zwar akzeptierte, aber als Ausnahmefall.
Nach sieben Jahren und beendetem Studium gelüstete es sie nach etwas Anderem. Er liess sie ziehen. Als sie nach kurzer Zeit sich anschickte, zu ihm zurück zu kehren, da wollte er nicht mehr. Der
Bann war gebrochen. Sie sahen sich dann noch, in grossen Abständen, aber keine zehn Mal, bis zu ihrem Tod, 27 Jahre später. Bei diesen jeweils kurzen Begegnungen war es immer nur um sie gegangen,
ihre berufliche Zukunft, ihre Befindlichkeit, ihre Beziehungen, ihre Familie.
Er hatte ihr geraten, Medizin zu studieren wie einst ihr Vater. Aber nein, sie stieg in seine Fächer ein, besuchte auch Vorlesungen von ihm, studierte Philosophie bei einem Freund von ihm, der
auch sein Lehrer gewesen war. Sie war gut, aber nicht herausragend, kam in vielversprechende Positionen, beim nationalen Fernsehsender etwa, beim Bund in Bern. Doch immer mehr misslang, was
sie auch anfasste, nach jeweils anfänglich guten Einstiegen. Sie hatte sich in der Hauptstadt niedergelassen, wo auch er dann hinzog, vor gut sieben Jahren, aus ganz anderen Gründen: nahe der
Westschweiz, aber auch nahe an Zürich, mit direkten Zugverbindungen. Während dieser ganzen gemeinsamen Bernzeit sahen sie sich zweimal kurz: ein Mal anlässlich einer Ausstellung der
Photographischen Gesellschaft Bern, im Juni 2017, ein weiteres und letztes Mal im März 2018 in einem Restaurant an der Effingerstrasse zu einem Gespräch von vielleicht einer Stunde Dauer, das vor
allem sie bestritt, und zu dem er eine vielsagende Kurznotiz verfasste: Sie redete nur noch von sich selbst.
Beide waren sie damals in den 90ern des letzten Jahrhunderts voll im Werden: sie im Studium, er in einem neuen Beruf aufgrund einer Privat-Ausbildung als internationaler politischer Analyst, als der er in St. Gallen gleich von Anfang an anderthalb Mal sein ehemaliges Gymnasiallehrergehalt im Aargau verdiente, nicht eingerechnet seine Entschädigung als Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Es war für ihn der Beginn seines Ausstiegs aus dem Bildungswesen, für sie die Erarbeitung der Grundlage für eine spätere berufliche Tätigkeit. Da diese Aktivitäten zum Teil ineinander griffen, wurde durch sie ihr Zusammenleben eine gute Mischung aus Miteinander und Nebeneinander. Gewiss: Es gab Auseinandersetzungen, aber nie schweren Streit, auch war er keineswegs klar der Führende, zumal sie als älteste von fünf Geschwistern gewohnt war, den Ton anzugeben. Jedenfalls war ihr Ausbruch aus der Beziehung mit ihm dann in Zürich aus deren Gang und Zustand zuvor nicht zu erklären. Sondern anders herum.
Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.